Unsere Tochter Merle wird demnächst zwölf Jahre alt. Es ist der erste Geburtstag, den sie ohne die Mama feiern muss, aber wir werden ganz bestimmt ein wunderschönes Fest daraus machen, und sie ist schon sehr gespannt darauf. Meine Frau hätte das genau so gewollt. Realistisch, optimistisch und der Zukunft zugewandt. So war unsere kleine Familie immer, und so werden meine Tochter und ich auch zu zweit weiterleben.
Sicher war es für Merle nicht einfach, so früh in ihrem Leben schon mit schwerer Krankheit, Sterben und Tod in Berührung zu kommen. Aber wir haben immer versucht, offen zu sein, ihr alles zu erklären, nichts zu beschönigen und keine Geheimnisse zu haben, was zur Folge hatte, dass sie ganz natürlich an das Lebensende ihrer Mutter herangeführt wurde. Kinder in dem Alter sind durchaus in der Lage vorausschauend zu denken, sie können ihre Konsequenzen ziehen, haben aber gleichzeitig eine besondere kindliche Unbedarftheit, die die Akzeptanz eines solchen Schicksalsschlages leichter macht, als es bei manchen Erwachsenen der Fall ist.
Selbst bin ich vor sechs Jahren zum ersten Mal mit dem Tod in der engeren Familie konfrontiert worden. Mein Vater starb 90-jährig, auch im Johannes-Hospiz. Die sehr guten Erfahrungen, die er und wir damals gemacht haben, waren ausschlaggebend dafür, dass meine Frau ihre beiden letzten Lebenswochen auch dort verbracht hat. Das Hospiz ist ein Segen.
Mein Vater, Jahrgang 1919, kam aus Schlesien und war direkt von der Schulbank in den Krieg eingezogen worden. 1940 hat er in Frankreich einen Arm verloren. Als Kriegsversehrter arbeitete er die letzten Kriegsjahre in Münster und hat einen neuen Bereich in der kommunalen Verwaltung mit aufgebaut und verantwortlich geleitet. Er war bis zu seiner Pensionierung dort tätig. Meine Mutter ist gebürtige Hamburgerin.
Persönlich habe ich meine berufliche Verwirklichung über einen längeren Orientierungsweg mit klassischer Schul- und Handwerksausbildung, unvollendetem Ingenieursstudium und einer Kaufmannsausbildung erlangt. Heute bin ich bei einer großen genossenschaftlichen Versicherung nach fast 25 Jahren in einer fach- und personalverantwortlichen Funktion tätig. Es ist kein „nine-to-five-Job“, aber die Tätigkeit gibt mir in meinem Leben Erfüllung und Zufriedenheit. Sie war auch während der Erkrankung meiner Frau eine Bastion der Normalität für mich.
Meine Frau Barbara habe ich mit 33 Jahren kennengelernt. Unsere gemeinsame Freundin Sandra und ihr Mann Markus haben uns zusammengeführt, und wir haben uns beide von Anfang an sehr gut verstanden. Ich will nicht sagen, dass es Liebe auf den allerersten Blick war, aber auf den zweiten Blick spürten wir, dass es passte und so sind wir relativ schnell zusammengezogen in eine Wohnung in der Innenstadt. Es waren schöne Jahre, freie Jahre. Wir sind viel gereist und haben das Leben intensiv genossen. Schnell wurde klar, dass wir, wie sagt man so schön, gemeinsam durchs Leben gehen wollten. Es folgte die Heirat, und da hatten wir uns schon vorgenommen, dass wir, wenn Nachwuchs kommt, auch ein eigenes Haus bauen wollten. Als Barbara schwanger wurde, haben wir dann ein Grundstück gekauft. Selbst haben wir auch viel beim Bau mit angepackt, halt alles, was wir konnten. Da kam mir meine handwerkliche Ausbildung gut zupass. „Muskelhypothek“ haben wir immer im Scherz gesagt. Nicht lange nach Merles Geburt sind wir dann hier in unser Haus im Dunstkreis von Münster eingezogen. Unser Leben änderte sich dadurch natürlich erheblich, aber es intensivierte sich auch. Wir waren nun ein Paar mit Verantwortung für ein kleines Mädchen. Wir fühlten uns wohl in unserer neuen Umgebung und fanden viele gleichgesinnte Freunde und Bekannte in der unmittelbaren Nachbarschaft und nachher durch die Kontakte, die Barbara mit anderen Eltern über die Krabbelgruppe, den Kindergarten und die Schule von Merle knüpfen konnte. Davon profitiere ich auch heute noch sehr.
Der Garten war das Hobby meiner Frau, darum musste ich mich nie kümmern. Das hat sich jetzt natürlich geändert, und ich habe schon viel dazugelernt. Ich hatte keine Ahnung, welche Sträucher und Pflanzen winterfest sind und welche nicht. Im Frühling wusste ich es dann! Man muss sich aber auch Hilfe holen. Wir haben hier eine Nachbarschafts-WhatsApp-Gruppe, und wenn ich schreibe „Kann mir jemand zeigen, wie man Rosen zurück schneidet?“, dann meldet sich bald jemand und bringt es mir bei. Gerade in unserer Situation jetzt ist das Gold wert – ein intaktes soziales Umfeld.
Wir hatten ein perfektes Leben, so wie wir es uns vorgestellt hatten. Zufriedenheit zu erlangen war immer unser Streben. Es war eine sehr, sehr schöne, glückliche und von Leichtigkeit geprägte Zeit. Es hätte gern so weitergehen dürfen. Aber dann kam die Erkrankung meiner Frau: Ein aggressiver Brustkrebstumor mit einer äußerst unguten Prognose. Als wir es erfuhren, es war der Nikolaustag, habe ich als Erstes gesagt: „So, und damit ist auch in unserem Leben die absolute Leichtigkeit erst einmal vorbei“. Wir haben der Situation von Anfang an realistisch ins Auge geblickt. Meine Frau war hoch motiviert, „den Scheißkerl“ – so nannten wir ihren Krebs immer – zu besiegen und sie tat alles dafür. Sie hat aber auch von Anfang an gesagt, dass sie kämpfen würde, so gut und so lange sie könnte, aber nicht über den Zeitpunkt der Aussichtslosigkeit hinaus. Dann sollte es auch schnell zu Ende sein. Ich habe sie darin immer, so gut ich konnte, unterstützt. Barbara war mutig, ausdauernd und zielbewusst und machte noch mehr Sport – auch während der Chemotherapie. Sie hat ihre Ernährung umgestellt und hat für sich und uns wie eine Löwin gekämpft. Nur leider hat die Chemo überhaupt nicht angeschlagen, und einige Monate später musste sie operiert werden. Nach anschließender Strahlentherapie und Reha schien der „Scheißkerl“ besiegt zu sein. Er war für einige Monate nicht mehr nachweisbar, und wir konnten gemeinsam mit Freunden und auch als kleine Familie allein sehr schöne Skiurlaube verbringen. Diese Reisen gaben uns noch einmal eine große Portion Mut und Zuversicht. Die Normalität war fast erreicht, und Barbara konnte auch wieder anfangen zu arbeiten. Aber kaum hatte sie sich in den Alltag zurückgekämpft, da kam der Krebs wieder.
Knapp zwei Jahre ging das so, und immer gewann „der Scheißkerl“. Haarverlust, Brustverlust, Implantat-Verlust, wieder Haarverlust, Bestrahlungen und so weiter. Sie wurde immer schwächer, und die ganzen Nebenwirkungen zermürbten auf Dauer natürlich auch. Nicht nur der Körper, auch die Psyche leidet, wenn die Krankheit einem peu à peu alles raubt. Wir haben fast jeden unserer geplanten Urlaube wieder absagen müssen, aber wir haben trotz dieser Ausnahmesituation auch immer versucht, unseren Alltag zu Hause so gut es geht aufrechtzuerhalten, für uns, aber vor allem für Merle. Kinder brauchen Normalität. Und wir haben sie immer mit einbezogen in die verschiedenen Krankheitsstadien. Warum Mama nicht mehr zusammen mit uns spazieren gehen kann, im Rollstuhl sitzen muss, warum ihr oft schlecht ist, warum sie immer mehr Hilfe benötigt. Merle hat es verstanden und ist auf ihre kindliche Weise toll damit umgegangen. Ja doch, sie waren ganz schön tapfer, meine beiden Frauen!
Sicher, die Hoffnung stirbt zuletzt, aber wir wussten ja wenige Monate vor Barbaras Tod, dass in ihrem Körper eine Zeitbombe tickt und wir haben es schließlich akzeptiert. Die Zeit der Hoffnung war vorbei. In unserem letzten gemeinsamen Sommer zu Hause haben wir viel über das bevorstehende Lebensende von Barbara und die weitere Zukunft von mir und Merle gesprochen. Man muss auch und gerade in einer solchen Situation realistisch bleiben, Vorkehrungen treffen, ein Testament verfassen, Vollmachten erstellen, die Beerdigung zusammen planen. Eine der zentralen Fragen war, wie kann ich bei meinem beruflichen Engagement das Leben für Vater und Tochter in Zukunft so gut wie möglich bewältigen. Wir haben ganz praktische Pläne gemacht, und Barbara hatte danach ein sicheres Gefühl, dass das gut gehen wird. Ich bin ein Mensch, der auch in dieser Situation ehrlichen Optimismus ausstrahlen kann. Auch Merle haben wir schon früh gesagt, dass Mama vielleicht sterben wird, dass dann die gute Seele den kranken Körper verlässt und Mama nicht mehr bei uns sein wird, aber dass ihre unsichtbare gute Seele für immer in uns bleibt. Dass sie das verstanden hatte, zeigte sich unmittelbar nach Barbaras Tod.
Als die Pflege zu Hause immer aufwändiger und schwieriger wurde, haben uns sowohl die Ärzte als auch der Palliativdienst nahe gelegt, einen Hospizplatz für meine Frau zu suchen. Eigentlich hätte Barbara daheim sterben wollen, aber wir mussten auch an unsere Tochter denken. Wenn 24 Stunden am Tag gepflegt werden muss, gibt es – wie sehr man sich auch bemüht – für ein Kind keine Normalität mehr. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, aber es war eine Vernunftentscheidung, und wir beide wussten, dass Barbara im Johannes-Hospiz sehr gut aufgehoben sein würde. Wir kannten das Haus ja schon durch meinen Vater. Trotzdem war es sehr schwer für mich, den Koffer meiner Frau zu packen in der Gewissheit, im Kopf, dass sie nie wieder nach Hause kommen wird. Und Barbara hat gesagt: „Wenn der Krankentransport kommt, um mich abzuholen, will ich versuchen, die paar Schritte von der Haustür zum Auto erhobenen Hauptes und auf eigenen Beinen zu gehen.“ Diese Art des Abschiednehmens von ihrem Zuhause war für sie sehr wichtig. Und es ist ihr gelungen.
Dann folgten die zwei Wochen im Hospiz, und das war eine wirkliche Erleichterung für uns alle. Alles Pflegerische wird einem abgenommen. Die Atmosphäre im Haus ist heiter. Alle Mitarbeiter haben ein unbeschreiblich großes Einfühlungsvermögen: Das Miteinander, das Füreinander, das soziale Leben dort, die Entschleunigung, die Normalisierung des Sterbens, all das wird im Hospiz intensiv gelebt. Das Leben wird noch ein letztes Mal konzentriert. Diesen letzten Weg, den wir ja alle einmal gehen werden, der wird da sehr human begleitet, sehr selbstverständlich und so ganz ohne Schrecken. Barbara wurde optimal versorgt, ihr wurde jeder Wunsch erfüllt, was nicht da war, wurde besorgt, und ich konnte mich nun ganz intensiv um sie und Merle kümmern. Es kehrte eine Art Ruhe in uns alle ein. Barbara lebte noch einmal richtig auf. Sie konnte sogar wieder mit Appetit essen. Ich habe dann zu Hause ihr Lieblingsgericht gekocht, das im Hospiz warm gemacht wurde. Wir haben es dann dort zusammen gegessen mit Merle, als sie aus der Schule kam. Ein Stückchen Lebensqualität kehrte so zurück. Wir konnten noch besprechen, wie die Trauerkarte aussehen und wie die Beerdigung im Einzelnen ablaufen soll. Sich mit dem Tod zu beschäftigen, alles im Detail durchzuspielen, das half uns beiden sehr. Also ich möchte diese Zeit nicht missen. Sich vorbereiten zu können auf das Lebensende seines liebsten Menschen ist ein wichtiger Prozess. Wirklich alles besprochen, alles geregelt zu haben, das gibt dem Partner das Gefühl, in Frieden sterben und, wie sagt man so treffend, in Frieden ruhen zu können. Für mich waren der Sommer und diese Wochen im Hospiz schon ein ganzes Stück der eigentlichen Trauerbewältigung, und meiner Frau gab es die sichere Gewissheit, dass wir auch ohne sie gut klarkommen würden. Wir hatten das Endgültige endgültig akzeptiert. Es durfte jetzt auch passieren.
Ich hatte Merle am Spätnachmittag vom Reiten abgeholt, und als wir ins Hospiz kamen, brannte unten im Flur eine Kerze. Da wusste ich sofort, dass Barbara gestorben war. Was dann folgte, war sehr schön, sehr intim und sehr wertvoll. Es lag eine Blume auf der Schwelle zu ihrem Zimmer. Barbaras Lieblingspflegerin sagte zu Merle: „So, jetzt machen wir Deine Mama richtig schön, willst Du uns dabei helfen? Dann hol schon mal ihre Lieblingssachen aus dem Schrank.“ Merle war die ganze Zeit dabei und hat geholfen. Zum Ende hin meinte sie: „Oh, jetzt sieht Mama schick aus. Aber sie wird so kalt. Mama, ist dir kalt? Ihre gute Seele hat jetzt bestimmt den kranken Körper verlassen.“ Als wir abends spät nach Hause kamen, haben wir zusammen noch etwas gegessen und sind dann ins Bett gegangen. Beide haben wir gut schlafen können. Es war vollbracht.
Am nächsten Tag fand unsere kleine Abschiedsfeier im engsten Familienkreis in ihrem Zimmer im Hospiz statt. Schön angezogen lag Barbara auf ihrem Bett. Die Kerzen brannten, es gab etwas Musik, ein Gebet wurde gesprochen, und wer das Bedürfnis hatte, konnte ein paar Worte sagen. Alles war sehr passend und feierlich. Ich habe es in sehr positiver Erinnerung.
Barbaras Wunsch war es, eingeäschert zu werden. Nach dem Gespräch mit der Bestatterin fragte diese Merle, ob sie Mamas Urne bemalen möchte. Merle fand das eine tolle Idee. Da hat unsere Tochter ihre ganze Kreativität hineingelegt und lange daran gearbeitet. Eine runde Tür hat sie darauf gemalt und ringsherum Natur mit Bergen und Blumen, Wolken und eine große Sonne. Sie war stolz darauf und hat es allen Kindern aus der Nachbarschaft gezeigt. Die hatten natürlich noch nie eine Urne gesehen und fragten ganz erstaunt, warum die denn so klein ist und wie ein Mensch da reinpassen soll. Merle hatte auf alle Fragen eine Antwort, und fünf Minuten später spielten die Kinder wieder draußen weiter. Am Tag nach der Bestattung wollte Merle unbedingt in die Schule gehen und hat gleich eine Deutscharbeit geschrieben, für die sie eine Zwei bekam. 14 Tage später sind wir beide dann in Urlaub gefahren: Wir haben die Herbstferien genutzt für unseren Neuanfang.
Das Leben hat sich natürlich verändert, der Alltag ist etwas anders strukturiert als früher, aber wir fühlen uns beide mittlerweile wohl in der geänderten Situation. Natürlich muss ich, nein, müssen wir beide den fehlenden Partner und die Mutter kompensieren. Aber es ist so wie es ist. Mein Lebensmotto war immer schon: Das, was sich nicht ändern lässt, muss man akzeptieren und dann das Beste daraus machen. Auf jeden Fall freue ich mich sehr, dass Merle trotz dieses großen Schicksalsschlages ihren weiteren Lebensweg gehen wird – und zwar mit Frohsinn und Zufriedenheit. Sie organisiert ihr Leben sehr gut selbst – nur allein nach Hause kommen ist manchmal noch schwierig, wenn sie etwas Erlebtes am liebsten sofort erzählen möchte. Aber auch dafür gibt es eine Lösung: Oben im Haus haben wir uns eine Kiste bewahrt mit vielen schönen Sachen, die Barbara gehörten. Wenn wir das Bedürfnis haben, ihr nahe zu sein, können wir etwas herausnehmen und uns intensiv erinnern. Das Wesentliche aber sind die schönen Erinnerungen in unseren beiden Herzen.