ZWÖLF GESCHENKTE JAHRE
Ursula Manner (85)
Mein Mann und ich waren 60 Jahre verheiratet. Glücklich verheiratet, das kann ich ohne Wenn und Aber sagen. Nun ja, überall gibt es Höhen und Tiefen natürlich, das wäre ja sonst auch ein langweiliges Leben. Aber der Jupp hätte mir die Sterne vom Himmel geholt, wenn er gekonnt hätte. Und er sagte immer, dass er seine Wahl, was seine Ehefrau betrifft, nie bereut hätte. Nun, wo alles fast vorbei ist, ist das rückblickend ein sehr gutes Gefühl. Doch.
Begonnen hat alles, ja, wo soll ich anfangen? Nun gut, zu dem Zeitpunkt vielleicht, wo sich meine Eltern kennengelernt haben. Gegen Ende der 1920er Jahre muss das gewesen sein. Mein Vater war niedergelassener praktischer Arzt und Geburtshelfer. Das stand auf dem Schild an seiner Praxis in Siegen. Meine Mutter war dort bei Verwandten zu Besuch, sie war noch jung und kam aus Aachen. Der rheinische Tonfall hat sich bis heute in unserer Familie durchgemendelt. Ihre fröhliche, selbstbewusste und zupackende Lebensart auch. Also mein Vater hat sich Knall auf Fall in die junge Rheinländerin verliebt, und obwohl er 13 Jahre älter war, hat meine Mutter sich doch bezirzen lassen und ihn geheiratet. Ich wurde als Älteste 1930 geboren, und es folgten noch vier weitere Kinder, zwei Brüder und zwei Schwesterchen. Meine Mutter hatte Hauswirtschaft gelernt, und das kam ihr gut zu Pass, denn nun hatte sie einen großen Haushalt zu führen, und es kamen immer sehr viele Gäste. Es war ein schönes Haus, in dem wir wohnten. Es gab Hauspersonal, und wir Kinder hatten ein riesiges Kinderzimmer, in dem jedes seine abgetrennte eigene Ecke hatte. Und es gab ein Kasperletheater, wo unser Vater sonntags, wenn er Zeit für uns hatte, Aufführungen für uns und unsere Freunde veranstaltete. Es gab eine elektrische Puppenküche, und ich bekam irgendwann eine lebensechte Käthe-Kruse-Babypuppe mit einem vom Schreiner gemachten Babybettchen. Kurzum, es fehlte uns an nichts. Meine Eltern taten alles für uns. Es war eine schöne Kindheit, trotz des aufkommenden Nationalsozialismus. Kinder verstehen das ja nicht. Der Alltag in der Schule, die Lieder, der Fahnengruß, die Uniformen – wir haben uns nichts dabei gedacht. Das war irgendwie normal. Auch als der Krieg kam, ging alles zuerst so weiter wie bisher.
Aber dann starb mein Vater plötzlich an Bauchfellentzündung. Es gab noch kein Penicillin und keine Antibiotika. Er hat wohl gewusst, dass er sterben musste, hat meine Mutter später erzählt. 47 Jahre alt ist er nur geworden. Wenn ich heute daran denke, dass die Medizin jetzt so viel weiter ist, macht mich das immer noch traurig. Meine Mutter war gerade einmal 35 Jahre alt, ich 12, und die Jüngste war erst drei Monate, als unsere Welt einstürzte. Und das kann man wörtlich nehmen, denn kaum ein Jahr später, beim zweiten großen Bombenangriff auf Siegen, wurde unser Haus komplett zerstört. Wir waren zum Glück im Bunker, und als wir wieder raus durften, war von dem großen Haus nur noch ein einziger Trümmerhaufen übrig. Und ganz oben auf dem Trümmerberg lagen zwei Figuren aus unserem Kasperletheater: Der König und der Kasper, ziemlich lädiert natürlich. Sonst war nichts mehr da. Alles weg – auch meine heißgeliebte Babypuppe. Wir hatten nichts mehr, weder einen Löffel noch sonst etwas.
Wir kamen vorübergehend im Kinderkrankenhaus unter. Das war gut, weil es da für uns alle genug zu essen gab, denn die Mutti hat in der Küche gearbeitet. Nach Kriegsende konnten wir irgendwann in ein Haus ziehen, das die Amerikaner wieder verlassen hatten. Da haben wir länger gelebt, und das war vor allem für meine kleineren Geschwister schön, denn es gab einen Garten, wo sie spielen konnten und wo ich versucht habe, etwas zu essen anzubauen. Nie werde ich vergessen, dass dort einige Erdbeerpflanzen überlebt hatten und wir zu meinem 16. oder 17. Geburtstag eine Bowle daraus machen konnten. Was für ein Genuss in Zeiten, in denen es so gut wie gar nichts gab! Aber ich habe nie das Gefühl gehabt, etwas zu vermissen – auch in den schlechten Nachkriegsjahren nicht. Bis auf meinen Vater natürlich. Mutti hat alles versucht, um das Leben für uns Kinder so normal wie irgend möglich verlaufen zu lassen. Auch wenn es sonst nichts gab, bei uns gab es immer Wärme und Liebe. Wir alle fünf hatten mit ihr ein ganz enges Band. Wir sind zwar einen steinigen Weg gegangen, aber aus allen ist etwas geworden. Wenn ich heute daran denke, was unsere Mutter damals geleistet hat, steigen mir die Tränen vor Dankbarkeit in die Augen. Sie hat sich eine Strickmaschine gekauft und Tag und Nacht gearbeitet, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe nach der Schule auf meine Geschwister aufgepasst, ihr den Rücken freigehalten. Sie trug die ganze Verantwortung für das Einkommen, ich trug die Verantwortung für den Haushalt und die Kleinen. Aber das habe ich gerne getan. Ich wollte ja auch Hauswirtschafterin werden, aber ehrlich gesagt, war ich das ja eigentlich schon längst.
Und dann kam die Zeit, in der ich meinen Mann, meinen Jupp, kennengelernt habe. Er wohnte in Siegen unten am Berg und hat mich, da er sich schon von Weitem in mich verliebt hatte, oft abgepasst, wenn ich zu Fuß von oben kam. Er war fast fünf Jahre älter als ich. Da ich meinen Vater früh verloren hatte, haben mich gleichaltrige Jungen eigentlich nie so interessiert. Ja, so wird man geprägt. Aber es war gut so. Wir sind viel spazieren gegangen und haben uns immer angeregt unterhalten. Er war noch im Krieg und kurz in Gefangenschaft gewesen, das alles hat er mir auf unseren Spaziergängen erzählt. Es gab eine schöne Intimität zwischen uns bei unseren Wanderungen, und das ist immer so geblieben, unser ganzes Leben lang. Wir sind gewandert wie die Weltmeister. Auch später in den Urlauben, bei Wind und Wetter. Wir waren immer zu Fuß unterwegs.
Ich hatte in dieser Zeit einen schweren Unfall, habe meinen Arm und meine Hand entsetzlich verbrannt. Damals stand es auf der Kippe, und ich habe schon das helle Licht des Himmelreichs gesehen. Später, als der Arm drohte steif zu werden, habe ich Jupp gesagt, dass ich ihn dann nicht heiraten würde – eine verkrüppelte Frau, die keinen Haushalt führen kann… Da hat er nur gelacht. Er hätte mich auf jeden Fall geheiratet.
1953 war es so weit. Am Osterdienstag. Ich muss wohl in der Hochzeitsnacht schwanger geworden sein, denn unser Sohn kam, vier Wochen zu früh, Ende Dezember zur Welt. Die Leute haben sich bestimmt das Maul zerrissen, von wegen einer „Muss-Heirat“, aber so war das nicht. Ich habe immer gesagt, das machen wir nicht. Das kann ich meiner Mutter nicht antun, und außerdem möchte ich stolzen Hauptes in Weiß vor dem Altar stehen. Er hat es respektiert und gesagt, „Wir holen das alles nach“. Das haben wir auch.
Mein Mann hat eine Lehre an der Sparkasse gemacht. Er hat als kleiner Bankangestellter angefangen und war, als er seinen Abschied nahm, Direktor. Dafür hat er immer wieder viele Lehrgänge machen müssen, aber es klappte, und er kam sehr gut bei den Kunden an. Von Siegen sind wir nach Finnentrop ins Sauerland gezogen und von dort weiter nach Meschede. Unsere vier Kinder wuchsen heran, wir hatten unser Auskommen und es ging immer bergauf. Mit 62 Jahren hat Jupp sich pensionieren lassen. Wir lebten mittlerweile in gute finanzielle Verhältnisse, die Kinder waren schon längst aus dem Haus, und da machte haben wir beschlossen, nach Münster zu ziehen, da die Stadt kulturell Vieles zu bieten hat. Mein Mann war ein großer Musikliebhaber und hatte in Meschede schon die Musiktage ins Leben gerufen, die dort viel Anklang fanden und immer noch finden. Ich kannte Münster ein wenig und war sofort begeistert.
Ein neuer Lebensabschnitt begann. Das ist mittlerweile schon über ein Vierteljahrhundert her, und ich habe diese Entscheidung keine Sekunde bereut. Zwar meinten meine Kinder vor einiger Zeit, dass sie sich wünschten, ich solle wieder in ihre Nähe ziehen, aber das habe ich strikt abgelehnt. Ich bin seit 12 Jahren auf meinen Rollator angewiesen, und damit kam ich in der Stadt bestens zurecht – aber im Sauerland würde ich das nicht mehr schaffen, dieses ewige bergauf-bergab. Nein, das kam für mich gar nicht in Frage. Außerdem bin ich gefühlsmäßig mittlerweile eine richtige Münsteranerin geworden – trotz meines leichten rheinischen Tonfalls.
Im ersten Jahr sind wir, ohne Übertreibung, jeden Abend irgendwo hingegangen: In Symphoniekonzerte, ins Theater, gern auch in Orgelkonzerte, in die Oper, in Ausstellungen, was es nur gab auf kulturellem Gebiet. Alles haben wir aufgesogen – wie trockene Schwämme. Erst danach ließ unser Heißhunger auf Kultur etwas nach. Jedes Jahr waren wir in Bayreuth bei den Festspielen. Nach Düsseldorf, nach Köln, überall, wo es etwas Besonderes gab, sind wir hingefahren. Viele schöne Reisen haben wir auch noch gemacht. Herrlich war es und genossen haben wir es – und wie! Nur die Krankheiten, die dann kamen, hatten wir nicht einkalkuliert.
Vor zwölf Jahren bekam ich einen inoperablen Krebs. Das hat mich zutiefst erschüttert. Ich war immer davon ausgegangen, dass mein Man vor mir stirbt. Ich kann ihn doch nicht alleine lassen, er kommt doch ohne mich nicht zurecht, habe ich immer gedacht. Es gab dann Bestrahlungen und diverse Chemotherapien. Fragen Sie mich besser nicht danach. Es war, gelinde gesagt, äußerst unschön. Krankenhaus, Reha, Krankenhaus, Reha und so weiter. Ich war verzweifelt, aber nicht so sehr wegen meiner Krankheit, sondern wegen meines Mannes. Wie sollte er ohne mich weiter leben? Alles war nur schrecklich. Bis mein Mann einen Platz für mich im Johannes-Hospiz gefunden hatte. Da fühlte ich mich sofort geborgen. Das habe ich auch gesagt, als meine Tochter mich dorthin brachte und mein Mann mich im Flur erwartete. Er strahlte nur so, dass er mich wieder in seiner Nähe hatte, und ich habe gestammelt: „Hier bin ich wieder glücklich“. Er kam jeden Morgen zu mir ins Hospiz und blieb bis abends an meiner Seite. Das Haus war wunderschön und die Pflege unvergleichlich liebevoll und gut.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich damals nicht genau wusste, was ein Hospiz ist. Gehört hatte ich davon, aber dass man da stirbt, wusste ich eigentlich nicht. Und ich wollte auch nicht sterben – ich musste doch für meinen Jupp sorgen… Ich habe an meinen Tod einfach nicht geglaubt, weil ich ihn mir nicht vorstellen konnte. Das war sicher naiv, aber mir ging es in diesem Haus damals seelisch sofort besser und körperlich langsam, aber sicher auch. Und alle haben gesagt, es ist ein Wunder. Denn mein Krebs bildete sich zurück. Stellen Sie sich das mal vor! Ich war schon 74 Jahre alt, und der „unheilbare“ Krebs bildete sich zurück, bis nichts mehr da war und es mir wieder richtig gut ging. Ein Wunder – na ja. Bis auf das Laufen. Da haben sich einige Nerven im Fuß geweigert wieder zu funktionieren. Nun, irgendeinen Preis muss man ja bezahlen, oder? Nach fünf Monaten Johannes-Hospiz war ich wieder daheim und habe mich schnell mit meinem Rollator angefreundet. Das war vor 12 Jahren! Und obwohl wir beide nicht mehr so ganz fit waren, hatten wir doch noch eine gute Zeit zusammen. Zumindest, bis unser ältester Sohn ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das war entsetzlich. Er war gerade Opa geworden. Vor allem mein Mann hat es nie verwinden können, und es hat ihn gesundheitlich sehr mitgenommen. Es ist wider die Natur, wenn ein Kind vor den Eltern stirbt – auch wenn es schon längst erwachsen ist.
Jetzt werde ich bald 86 Jahre alt und lebe zum zweiten Mal im Johannes-Hospiz. Das war mein großer Wunsch. Es hat mir ja vor 12 Jahren schon so gut gefallen! Für mich kam, nach meiner erneuten Krebserkrankung, keine andere Lösung, kein anderes Haus, in Frage. Vor drei Jahren ist mein Mann gestorben. Er wollte sich nicht mehr operieren lassen, wollte nicht zum Pflegefall werden. Zum Ende hin ist es relativ schnell gegangen. Das war gut für ihn und auch für mich. Nun kann ich mich auf mein eigenes Lebensende vorbereiten. Es ist eh’ schon alles festgelegt. Unsere Asche – sagt man das so? – also die Asche meines Mannes und meine Asche werden zusammen im Meer verstreut. Dazu wünsche ich mir wunderschöne bunte Gerbera – die mochten wir doch beide so gern. Ich liebe zwar die Nordsee, aber da ist es immer so ruppig, also wird es die Ostsee. Meine Kinder und Enkelkinder können ja den Zeitpunkt bestimmen. Es könnte ja auch im Sommer sein. Auf einen Monat kommt es dann auch nicht mehr an…
Die Schwestern hier, die mich noch von damals kennen, sagen manches Mal so aus Jux: „Frau Manner, passen Sie mal auf, vielleicht geschieht wieder ein Wunder…“. Aber das möchte ich auf gar keinen Fall. Es gibt andere, viel Jüngere hier im Haus, die ein solches Wunder wesentlich besser gebrauchen könnten!
Mir gefällt es nicht, dass ich nicht mehr selbständig sein kann und auf fremde Hilfe angewiesen bin. Aber es ist nun mal so. Ich habe mein Leben gelebt, und ich betone immer wieder, dass es ein gutes Leben war. Jetzt will ich auch nicht mehr weiter und kann mit einem guten Gefühl abtreten. Ich freue mich auf meinen letzten Atemzug – ehrlich.
Meine Kinder schimpfen immer, wenn ich so etwas sage. Wir haben gottseidank eine gute, intakte Familie. Kinder, Enkelkinder, Urenkel – alle kommen mich hier besuchen, geben sich die Klinke in die Hand. Schön und gut, aber mir reicht das Leben jetzt. Soll ich meine Kinder trösten? Nein, ich sage immer „Ihr könnt weinen, wenn ich nicht mehr da bin, aber bitte nicht zu viel. Esst was Schönes, trinkt auf mein Wohl und dann lasst es gut sein. Ich hatte doch ein schönes, langes Leben und kann zufrieden zurückblicken. Was will man mehr? Also lasst mich gehen. Ich liebe Euch.“