Ja, mein Großvater. Er hat mein ganzes Kinderleben begleitet. Obwohl der Vater meines Vaters schon 1945 auf einem Kriegsgefangenentransport nach Russland starb, war er in Form einer Fotografie doch immer anwesend: Schwarz gerahmt, am Bett meiner Großmutter. Sie hat mir immer gern von früher erzählt. Geschichten, die sich zeitlich aufteilten in „vor dem Krieg“ und „nach dem Krieg“, seltener in „im Krieg“. Geschichten, die meine Fantasie beflügelten. ¶ Wer ist dieser ältere Mann mit der Brille, dem harten, abweisenden Gesicht, dieser Uniform vor einer Baracke, habe ich mich als Kind oft gefragt. Aus dem Rahmen schaute er mich starr, schmallippig und streng an, so streng, dass ich sogar ein wenig Angst vor ihm hatte, obwohl er doch nicht mehr lebte. Ein kleines Bild, ein großes Rätsel. ¶ Es wurde viel von ihm gesprochen zuhause. Und solange Großmutter lebte, wurde jedes Jahr zu seinem Geburtstag im November ein großes, festliches Essen gegeben. Weißer Damast, im Kerzenschein funkelnde Gläser, Kalbshaxe in Portwein und andere rätselhafte Leckereien. Nach dem Dessert wurde ein Toast auf den toten Max Julian ausgebracht. Geheimnisvolle Rituale. ¶ Als ich älter wurde und auf meine Fragen nach dem „im Krieg“ keine befriedigende Antwort bekam, entschloss ich mich, Geschichte zu studieren, um es vielleicht selbst heraus zu finden. Jetzt hängt Großvaters Foto in unsere Küche und lässt mich immer wieder über die Komplexität von Gut und Böse nachdenken. Wenn ich einmal Zeit und Ruhe habe, möchte ich es lösen: Das Geheimnis meines fernen, aber immer gegenwärtigen Großvaters. | Volker, 60