Unforgettable

Fotografien an der Wand, auf Schrank und Nachttisch.
Geliebte Menschen, die nicht länger unter uns sind.
Erinnerungen tauchen auf.

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Der Zweite Weltkrieg hat das Leben meines Vaters ziemlich durcheinander gewirbelt. Er war zwanzig, als der Krieg auch die Ukraine erreichte, wo er aufgewachsen ist. Über die Zeiten, die dann folgten, hat er nie reden wollen. Er ist wohl verschleppt worden, hat sich irgendwie durchgeschlagen und fand sich dann nach den Kriegswirren in Deutschland wieder, wo er meine Mutter kennen lernte und bald von allen Peter genannt wurde – obwohl er eigentlich Stanislaw hieß. ¶ Mein Vater war und ist immer noch der wichtigste Mensch in meinem Leben, zumal ich viele Charaktereigenschaften von ihm „geerbt“ habe – positive, aber auch negative. Unser Verhältnis war immer konfliktreich, aber wurde in seinen letzten Jahren auch von gegenseitigem Respekt getragen. ¶ Gerade dieses Foto strahlt eine ungeheure Lebensfreude aus, meine ich. Es wurde nicht lange nach Kriegsende aufgenommen und steht auf dem Flügel – dort, wo ich so oft sitze und spiele, dort, wo die wichtigsten Menschen in meinem Leben alle ihren Platz haben, damit sie mir nahe sind. Mit einer gewissen Sentimentalität schau ich mir während meines Spiels manchmal sein Gesicht an, und dann geht mir der Gedanke durch den Kopf, dass er eigentlich stolz darauf sein könnte, dass aus mir ein halbwegs anständiger Mensch geworden ist, der sein musikalisches Erbe nicht vergeudet hat. Ich hätte mir gewünscht, dass er länger an meiner Seite gewesen wäre. | Harald, 58

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Alle Leute hier nennen mich Lucy. Keine Ahnung warum. Es macht mir nichts, aber manchmal denke ich doch, dass der Name Lucilia eigentlich viel schöner ist. Mein Mann hieß Manuel, er war ein guter Mann. Er hat mich nie geschlagen. Wir waren ungefähr sechzig Jahre verheiratet, so genau weiß ich das nicht mehr. Wir haben es gut gehabt im Leben, nur hätten wir nicht nach Australien auswandern dürfen. Damals habe ich immer gedacht, wir kehren irgendwann auf unsere wunderschöne Insel Madeira zurück. Aber jetzt, wo Manuel nicht mehr lebt, ist alles zu spät. Meine ganze Familie lebt ja hier. Die Kinder, die Enkelkinder, die Urenkel. Leider sprechen die Jüngeren alle kein Portugiesisch mehr und mein Englisch ist sehr schlecht. Zum Glück kann ich hier portugiesisches Fernsehen empfangen. ¶ Das Foto wurde, glaube ich, gemacht, als Manuel 90 wurde. Es hängt im großen Zimmer. Da, wo die Heilige Fatima auch steht. Zu der bete ich jeden Tag, dass der Herrgott mich endlich zu sich holt. Ich möchte im Himmel wieder bei Manuel sein. Ich bete jeden Tag für ihn und spreche auch mit ihm. Wie es ihm geht, frage ich, und dass ich bald wieder mit ihm zusammen sein werde. Oft weine ich dann auch. | Lucilia, 88

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Meine Mutter war anscheinend schon immer so, als Kind schon. Das sieht man sogar auf diesem Foto, obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, als es aufgenommen wurde. Wie alt mag sie da gewesen sein? Drei, vier? Auf keinen Fall älter. Immer im Mittelpunkt, immer die Schönste, immer die, die alles besser wusste als alle anderen zusammen – damals war sie schon so, denke ich. ¶ Obwohl ich Unmengen von Fotos in Kisten und Kasten habe, ist dies das einzige von meiner Mutter, das hier steht. Eigentlich nur, weil mir der alte Rahmen gut gefällt. Ach ja, eins hing mal im Flur, aber das ging auf Dauer nicht gut mit uns beiden. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass meine Mutter mir bei meinem Tun und Lassen zuschaute. Eines Tages meinte ich sogar, ihre geringschätzigen Blicke in meinem Rücken zu spüren. Tja, dann habe ich kurzerhand ein Foto meines Vaters rausgekramt, es in den Rahmen gepackt und das Bild meiner Mutter auf die Rückseite verbannt. Nun muss sie sich den ganzen Tag die Wand anschauen und ich hab meine Ruhe. | Evelyn, 66

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Immer wenn ich mir das frisch vermählte Paar auf dieser Fotografie ansehe, fange ich an, nach äußeren Ähnlichkeiten mit mir selbst, mit meinen Kindern und Enkelkindern zu suchen und frage mich, welche Charaktereigenschaften wir von meinen Großeltern geerbt haben mögen und wie ihr Pionierleben in Süd-Australien wohl ausgesehen haben mag. ¶ Er, Thomas, war irischer Abstammung. Ethel Maud kam aus einer wohlhabenderen Familie mit englischen Wurzeln. Meine Urgroßmutter war sehr gegen diese Verbindung. Sie meinte, dass Ethel Maude unter ihrem Stand heiratete – die Engländer betrachteten die Iren damals als Menschen zweiter Klasse. Diese Art zu denken war weit verbreitet. Aber meine Urgroßmutter hatte Thomas falsch eingeschätzt: Er wurde später sehr erfolgreich. Die beiden bekamen elf Kinder, sieben Jungen und vier Mädchen. Meine Mutter war die Zweitjüngste. ¶ Nach Ihrem Tod im vergangenen Jahr hat sich keines meiner Geschwister für dieses wunderbare Hochzeitsbild interessiert. Es wurde im Jahr 1906 von einem professionellen Fotografen aufgenommen, das kann man sehen. Diese aufwändig gerahmte Fotografie passt gut zu den anderen Kunstwerken hier und gibt dem Raum die Anmutung eines altmodischen Salons. ¶ Ich freue mich immer wieder, Thomas und Ethel Maud hier bei mir zu haben. Hoffentlich bleiben sie noch lange in unserem Familienbesitz! | Helen Maude, 56

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Dies ist das erste Foto unseres Sohnes. Es wurde uns damals von der Adoptionsvermittlungsstelle zugeschickt: Jung Hoon, ein kleiner koreanischer Waisenjunge; unser Jüngster! Er schaut sehr ernst und sieht irgendwie verloren aus. Kein schönes Bild, ein so kleiner Knirps, der wie ein Verbrecher abgelichtet wird. Und doch bedeutet uns dieses Foto viel, denn es stellt auch einen Neubeginn dar. Es hängt neben dem Fenster zum Garten, von wo der Weg in den Wald führt. Der Weg, den er so oft gegangen ist. ¶ Zweieinhalb Jahre alt war er, als wir ihn mit der ganzen Familie vom Flughafen abholten. Nun war Tobias, wie wir ihn haben taufen lassen, endlich da. Ein ernstes Kind, tatsächlich. Er brauchte sehr viel Liebe und Zuwendung, und wir sind glücklich, dass wir ihm beides haben geben dürfen. ¶ Als Tobias achtzehn wurde, hätten wir gerne zusammen mit ihm eine Reise in sein Geburtsland gemacht. Aber er hatte damals noch kein wirkliches Interesse daran. Später, als der Krebs schon da war, fehlte ihm die Kraft dazu. Ein halbes Jahr nach seinem Tod – er war erst zweiundzwanzig – haben wir beide uns allein auf Spurensuche nach Südkorea begeben. Die Zeit dort hat viel dazu beigetragen zu akzeptieren, dass wir unseren geliebten Sohn nur eine begrenzte Wegstrecke begleiten durften. Man kann sagen, dass diese Reise es uns ermöglicht hat, Tobias über den Tod hinaus noch intensiver kennenzulernen. | Adelheid und Gerhard, 71

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Ja, mein Großvater. Er hat mein ganzes Kinderleben begleitet. Obwohl der Vater meines Vaters schon 1945 auf einem Kriegsgefangenentransport nach Russland starb, war er in Form einer Fotografie doch immer anwesend: Schwarz gerahmt, am Bett meiner Großmutter. Sie hat mir immer gern von früher erzählt. Geschichten, die sich zeitlich aufteilten in „vor dem Krieg“ und „nach dem Krieg“, seltener in „im Krieg“. Geschichten, die meine Fantasie beflügelten. ¶ Wer ist dieser ältere Mann mit der Brille, dem harten, abweisenden Gesicht, dieser Uniform vor einer Baracke, habe ich mich als Kind oft gefragt. Aus dem Rahmen schaute er mich starr, schmallippig und streng an, so streng, dass ich sogar ein wenig Angst vor ihm hatte, obwohl er doch nicht mehr lebte. Ein kleines Bild, ein großes Rätsel. ¶ Es wurde viel von ihm gesprochen zuhause. Und solange Großmutter lebte, wurde jedes Jahr zu seinem Geburtstag im November ein großes, festliches Essen gegeben. Weißer Damast, im Kerzenschein funkelnde Gläser, Kalbshaxe in Portwein und andere rätselhafte Leckereien. Nach dem Dessert wurde ein Toast auf den toten Max Julian ausgebracht. Geheimnisvolle Rituale. ¶ Als ich älter wurde und auf meine Fragen nach dem „im Krieg“ keine befriedigende Antwort bekam, entschloss ich mich, Geschichte zu studieren, um es vielleicht selbst heraus zu finden. Jetzt hängt Großvaters Foto in unsere Küche und lässt mich immer wieder über die Komplexität von Gut und Böse nachdenken. Wenn ich einmal Zeit und Ruhe habe, möchte ich es lösen: Das Geheimnis meines fernen, aber immer gegenwärtigen Großvaters. | Volker, 60

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In jedem Raum hier im Haus steht mindestens ein Foto von Martin. Ich brauche ihn um mich, überall. Es hat lange, lange gedauert, bis es überhaupt so weit war, dass ich den Verlust unseres Sohnes einigermaßen akzeptieren konnte. Meine Gedanken kreisten immer nur um die eine Frage „Warum Martin? Warum ausgerechnet er?“ ¶ Mein Mann, meine Tochter und viele Freunde haben unendlich viel für mich getan. Sie waren Tag und Nacht für mich da, trotz ihres eigenen Schmerzes. ¶ Martin stand kurz vor dem Abitur, als es passierte. Er hatte das ganze Leben noch vor sich. Selbstbewusst, begabt, fast immer gut gelaunt, beliebt und lebenshungrig war er. Wo stünde er heute, wenn damals, an einem Märzabend kurz nach seinem 19. Geburtstag, das Entsetzliche nicht passiert wäre? Dunkelheit, Glatteis, eine Kurve, der Baum. Sekundenbruchteile. Er hat nicht leiden müssen, haben die Ärzte uns versichert. Die Unfallstelle ist nicht weit entfernt, aber ich meide diese Landstraße und fahre – auch heute noch – lieber Umwege. ¶ Der Verlust meines Sohnes hinterließ eine tiefe Wunde, die nur sehr, sehr langsam heilt. Jetzt allmählich, so viele Jahre nach seinem Tod, würde ich vielleicht sogar ohne seine Fotos weiter leben können. Jetzt endlich habe ich Martin in mir. | Margot, 67

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Ich liebe dieses Foto meines verstorbenen Mannes. Er sieht so jung, so schön und unschuldig aus. Vor etwa 70 Jahren wurde es aufgenommen, als er zur Marine kam. Viele australische Soldaten starben während des Zweiten Weltkrieges in Europa und im Pazifik. Aber er kam – Gott sei Dank – zurück. ¶ Sein Bild steht auf einem Tischchen im Wohnzimmer. So können ihn alle sehen und er uns auch. Ja, ich unterhalte mich mit ihm, obwohl er nicht mehr hier ist – seit schon fast zehn Jahren. Aber das ist zu persönlich, als dass ich darüber sprechen möchte. Ich habe sehr oft das Gefühl, dass er immer noch bei mir ist und ich vermisse ihn jeden einzelnen Tag. | Kathleen May, 87

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Hinter diesem Foto steckt eine verrückte Geschichte. Zu sehen sind Anastasia, Afanase, Aleksandr und Antonia. Es ist meine russische Familie, von der ich lange gar nichts wusste. Das Bild hängt jetzt zwischen all meinen Familienfotos auf der Toilette. Da hat man Zeit und Muße, sie sich in Ruhe immer wieder anzusehen. ¶ Also, mein Großvater war russischer Herkunft und ist nach der Oktoberrevolution von 1917 nach Paris gegangen. Irgendwann hat er dann eine hübsche Französin kennen gelernt. Das wurde meine Großmutter. Viel mehr wusste ich nicht. Und dann kam vor ungefähr zehn Jahren dieser Brief aus Moskau ins Haus geflattert. Von unserer russischen Verwandtschaft dort! Das war so spannend, dass meine Mutter und ich bald hingeflogen sind. Es war überwältigend, plötzlich Verwandte zu haben, von denen man nie etwas gewusst hat. Sie haben uns viele Fotos geschenkt und ich habe dieses hier ausgewählt. Meine östlichen Wurzeln sozusagen. Ich schaue mir die Gesichter immer wieder an und male mir ihre Lebensgeschichten aus. Seitdem interessiere ich mich viel mehr für russische Musik, Literatur und Kunst. Welch eine unvermutete Bereicherung meines Lebens! | Marisa, 48

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Das ist mein Opa, er hieß, glaub’ ich, Albert mit Vornamen und kam aus England. Manchmal schau ich mir das Foto an und frage ihn „Wie geht ’s Dir, wo auch immer Du jetzt bist?“ ¶ Er war schon lange tot, als ich geboren wurde. Schade eigentlich, denn er ist mein Held! Deshalb steht das Foto in meinem Zimmer auf dem Schrank. Mein Papa hat es mir geschenkt. Davor dann das Spielzeugklavier, denn Papa hat gesagt, dass Opa immer so gern Klavier gespielt hat. Dann hab ich noch Bart von den Simpsons drauf gestellt und den Cowboysaloon und den Revolver dann davor. Denn mein Großvater ist ein Superman. Er würde mich und meine Freunde immer und überall retten. Das träume ich manchmal. Pech für mich, dass er nicht mehr lebt. | Asher, 10

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Schön sehen sie aus, meine Eltern auf ihrem Verlobungsfoto. Auf der Rückseite steht in der unverwechselbaren Handschrift meiner Mutter „Nikolaustag, Dezember 1945”. Der Krieg war vorbei, die Niederlande befreit. ¶ Extra fein angezogen haben sie sich. Vielleicht hat er sie mit dem Fahrrad abgeholt, und sie saß hinten auf dem Gepäckträger, ihre Arme um ihn geschlungen. In jede Kurve hat sie „bitte nicht so schnell, Johannes!” gerufen. Ich kann nur mutmaßen, nicht mehr fragen. Johannes starb vor 18 Jahren, einige Zeit nach seiner Pensionierung. Meine Mutter wird es nicht mehr wissen, wie sie so vieles nicht mehr weiß. ¶ Das Foto sollte so etwas wie ein Versprechen sein: Bald werden wir heiraten, eine eigene Familie gründen, Kinder groß ziehen. Die schlechten Zeiten sind vorbei, die Zukunft gehört uns. Und so kam es auch. Man kann es auf diesem Foto schon sehen. Sie voller Liebe, Fröhlichkeit und Optimismus, er verantwortungsvoll und ernster, aber nicht ohne Schalk in den Augen. Zusammen bildeten sie mein glückliches Elternhaus. Ein warmes Gefühl durchströmt mich, wenn diese beiden Menschen mich aus ihrer Vergangenheit anschauen. | Janneke, 56